Beschäftigungsort bei Entsendung in einen Drittstaat und Familienleistungen

Der Sachverhalt:

Bei diesem Sachverhalt geht es um eine Frau und ihre drei Kinder, die alle vier deutsche Staatsangehörige sind und ihren gemeldeten Wohnsitz in Deutschland haben. Der Ehemann, bei dem es sich um den Vater der drei Kinder handelt, ist brasilianischer Staatsangehöriger und hatte nie einen gemeldeten Wohnsitz in Deutschland.

Seit längerer Zeit ist sie als Entwicklungshelferin tätig. Zwischen 2013 und 2016 hielt sich die Familie abwechselnd in Deutschland und Brasilien auf, wo der Ehemann Grundbesitz hat und als Landwirt arbeitete.

Im September 2016 schloss die Frau einen Arbeitsvertrag mit einer österreichischen Nichtregierungsorganisation. Laut diesem Vertrag befand sich der Dienstort der Frau in Wien und sie, sowie die Familienangehörigen, wurden von der Wiener Gebietskrankenkasse sozialversicherungsrechtlich erfasst. Nach Absolvierung des Vorbereitungskurses (Anfang September – Mitte Oktober) trat sie am 31.10.2016 ihren Auslandseinsatz in Uganda an. Auf diesem Auslandseinsatz wurde sie von ihrer Familie begleitet und dauerte bis August 2019 und wurde lediglich für 3,5 Monate (17.10.2017 – 07.02.2018) wegen der Geburt des dritten Kindes unterbrochen. Zu dieser Zeit der Unterbrechung bewohnte sie ein Zimmer, die ihr in der Wohnung ihrer Eltern in Deutschland zur Verfügung gestellt wurden, und bezog von der Wiener Gebietskrankenkasse Wochengeld. In der Zeit vom 15.08.2019 bis 15.09.2019, also dem letzten Montag vor dem Ende ihres Arbeitsvertrags, verbrachte sie einen Wiedereingliederungsmonat in Wien. In diesem Zeitraum verfügte die Frau, wie auch bei der Vorbereitungszeit, einen Wohnsitz in Wien, welcher ihr vom Arbeitgeber unter bestimmten Bedingungen zur Verfügung gestellt worden war, und zwar insofern als sie und ihre Familie ihn nur während der Vorbereitungszeit und der Wiedereingliederungszeit nutzen konnten. Während der Auslandseinsätze wurde die fragliche Wohnung anderen Entwicklungshelfern zur Verfügung gestellt. Während dieser Zeiten waren die Frau sowie ihre Kinder und ihr Ehemann in Österreich mit Hauptwohnsitz gemeldet.

Während die Frau als Entwicklungshelferin tätig war, führte ihr Ehemann, der sie begleitete, den Haushalt. Während ihres Einsatzzeitraumes verbrachte die Frau ihre Urlaube in Deutschland, wo sie über Bankkonten verfügt.

Bis September 2016 bezog die Frau von der zuständigen deutschen Behörde Kindergeld für ihre ersten beiden Kinder. Mit Bescheid dieser Behörde vom 26.09.2016 wurde die Bewilligung des Kindergelds mit der Begründung aufgehoben, dass die Republik Österreich für Familienleistungen zuständig sei, da die Frau nunmehr in Österreich arbeitete und ihr Ehemann in Deutschland keine Erwerbstätigkeit ausübe.

Sie beantragte beim Finanzamt am 05.10.2016 Familienbeihilfe für ihre ersten beiden Kinder und am 08.01.2018 für ihr drittes Kind. Sie machte geltend, ihre Familie habe keinen gemeinsamen Wohnsitz in Deutschland oder Brasilien, da alle Familienmitglieder sie bei ihren Auslandseinsätzen in der Regel an ihre Einsatzorte begleiteten. Als sie die Anträge stellte, war Uganda ihr Einsatzort.

Das Finanzamt wies die Anträge mit der Begründung ab, dass sie keinen Anspruch auf die österreichischen Familienleistungen habe, da sie ihre Tätigkeit als Entwicklungshelferin in einem Drittland ausübe. Folglich übe sie in Österreich keine Beschäftigung i.S.v. Art. 11 III Buchst. A der VO Nr. 883/2004 aus und falle daher nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung. Zudem stelle die Unterkunft in Wien keinen „Wohnort“ dar und erlaube auch keinen „Aufenthalt“ i.S.v. Art 11 III Buchst. J bzw. k dieser Verordnung, was zur Folge habe, dass die Republik Österreich nicht der Wohnmitgliedsstaat i.S.v. Art. 11 III Buchst. E dieser Verordnung sei. Außerdem habe die Frau auch nach den nationalen Vorschriften keinen Anspruch auf Familienleistungen.

Daraufhin erhob sie gegen diese Bescheide Beschwerde, wobei sie geltend machte, dass die Republik Österreich der Mitgliedstaat sei, in dem sie eine Beschäftigung ausübe, da laut ihrem Arbeitsvertrag ihr Dienstort Wien sei. Außerdem habe sie ihre Instruktionen aus Wien erhalten. Ebenfalls in Wien habe der Vorbereitungskurs stattgefunden und sei der Wiedereingliederungsmonat verbracht worden. Ferner sei sie in Wien gemeldet gewesen und habe sich dort ihr Mittelpunkt der Lebensinteressen befunden.

Daher hat das Bundesfinanzgericht (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

 

Tenor des Gerichts:

 

  1. 11 III Buchst. A der VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass eine Arbeitnehmerin mit Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, in dem sie und ihre Kinder auch ihren Wohnort haben, die mit einem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ein Beschäftigungsverhältnis las Entwicklungshelferin eingeht, das nach den Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats dessen Pflichtversicherungssystem unterfällt, und die zwar nicht unmittelbar nach Einstellung, jedoch nach Absolvierung einer Vorbereitungszeit im anderen Mitgliedstaat – in dem sie nach Rückkehr eine Wiedereingliederungszeit verbringt – in einen Drittstaat entsendet wird, als Person anzusehen ist, die im anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung im Sinne der genannten Bestimmung ausübt.
  2. 288 II AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer mitgliedstaatlichen Vorschrift, deren persönlicher Geltungsbereich insofern über den der VO Nr. 883/2004 hinausgeht, als sie eine Gleichstellung der Angehörigen der Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 02.05.1992 mit seinen eigenen Staatsangehörigen vorsieht, nicht entgegensteht, sofern diese Vorschrift im Einklang mit dieser Verordnung ausgelegt wird und deren Vorrang nicht infrage gestellt wird.
  3. 68 III Buchst. A der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 II und III der VO (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 sind dahin auszulegen, dass sie den Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats und den Träger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats derart miteinander verbinden, dass der Antragsteller auf Familienleistungen nur einen einzigen Antrag bei einem dieser Träger einbringen muss, der dann von diesen beiden Trägern gemeinsam zu erledigen ist.
  4. Die Art. 45 und 48 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht untersagen, generell Familienleistungen abzuschaffen, die er bis dahin Entwicklungshelfern gewährte, die ihre Familienangehörigen an ihren Einsatzort im Drittland mitnehmen, sofern diese Abschaffung zum einen unterschiedslos sowohl für Berechtigte mit Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats als auch für solche mit Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats gilt und zum anderen eine unterschiedliche Behandlung der betroffenen Entwicklungshelfer nichtdanach bewirkt, ob sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit vor oder nach der Abschaffung Gebrauch gemacht haben, sondern danach, ob sie mit ihren Kindern in einem Mitgliedsstaat oder in einem Drittland wohnen.

EuGH (Achte Kammer) Urt. V. 25.11.2021 – C-372/20 (Q Y/Finanzamt Österreich)

 

 

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