Der Anspruch auf Kindergeld im nachrangigen Staat (Deutschland) ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat (Polen) aber nicht erfüllt werden.
Sachverhalt:
Der Vater (V) ist polnischer Staatsbürger und seit Juni 2010 verheiratet. Er hat einen Wohnsitz im Inland und war im Streitzeitraum nicht erwerbstätig.
Der Sohn (A) lebt im Haushalt von V und seiner Ehefrau (F) in Polen. F hat sich damit einverstanden erklärt, dass das Kindergeld an V gezahlt wird. F war nicht erwerbstätig. Die Eheleute bezogen für A kein Kindergeld in Polen, da das Familieneinkommen die im Bewilligungszeitraum gültige Einkommensgrenze überstieg.
Das Kindergeld (gesetzliche Höhe) für A wurde zunächst durch die Familienkasse gezahlt. In 2017 wurde die Kindergeldfestsetzung für den Streitzeitraum aufgehoben.
Begründung: V habe nur für die Zeiträume Juni bis Dezember 2014 und Mai bis Dezember 2015, nicht aber für den Streitzeitraum Nachweise über die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit vorgelegt. Der Kindergeldanspruch gilt daher nach dem Wohnortprinzip für ausgeschlossen (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004).
Das FG Köln gab der Klage mit der Begründung statt, der nationale Kindergeldanspruch sei unionsrechtlich nicht ausgeschlossen.
Entscheidung:
Der BFH folgt dem FG. V steht das deutsche Kindergeld in voller Höhe zu. Der Anspruch auf deutsches Kindergeld ist nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen. Da kein Anspruch in Polen besteht und somit keine konkurrierenden Ansprüche gegeben sind, greift die Prioritätsregelung nicht ein.
Relevanz für die Praxis:
Das vom BFH durch Auslegung der europarechtlichen Regelungen, insbesondere am Wortlaut des Art. 68 VO Nr. 883/2004 ermittelte Ergebnis mag merkwürdig erscheinen. Deutschland muss bei einer nur geringen ausländischen Familienleistung für den Fall, dass der entsprechende Leistungsanspruch allein durch den Wohnort ausgelöst wird und das Kind in dem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Unterschiedsbetrag (Differenzkindergeld) leisten. Hingegen ist der volle inländische Kindergeldanspruch zu erfüllen, wenn im vorrangigen Mitgliedstaat überhaupt kein Anspruch besteht. Dieses Ergebnis ist aber hinzunehmen, weil es den europarechtlichen Vorgaben entspricht.